Dokumentation „Eingeimpft - Familie mit Nebenwirkungen“ und eine Art wissenschaftliche Rezension

Katharina T. Paul gibt, als eine von mehreren WissenschafterInnen verschiedenster Disziplinen, eine etwas andere Filmkritik zum neuen Dokumentationsfilm "Eingeimpft - Familie mit Nebenwirkungen".

Der Titel der neuen Dokumentation von David Sieveking lautet "Eingeimpft - Familie mit Nebenwirkungen". Ab dem 13.09.2018 startet der Film in den deutschen Kinos.
Das Science Media Center liefert zum Film eine Art wissenschaftliche Rezension: Mehrere WissenschafterInnen aus verschiedenen Disziplinen haben sich den Film vorab angesehen und erklären einzelne Szenen, Informationen, Bildsprache und mehr mit Konzepten und Theorien aus ihrer jeweiligen Fachrichtung. Eine etwas andere Filkritik.

 

Dr. Katharina T. Pauls Kommentar:
Projektleiterin von „KNOW-VACC: Knowledge production and governance in vaccination policy. A comparison of vaccination registries in Austria and the Netherlands”, Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien

„Zum Aspekt Impfprogramme als Forschungsgegenstand: Aus Sicht der Politik- und Sozialwissenschaften spiegeln Impfprogramme nicht nur historische Konflikte wider, sondern bergen auch immer wiederkehrende Fragen zu Grenzen staatlicher, individueller und gesamtgesellschaftlicher Verantwortung und Handlungsmacht. Als Politikwissenschaftlerin vergleiche ich die Gestaltung und Wirkung von Impfpolitik und erforsche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten.“

„Steuerung oder Entscheidung? Politikwissenschaftliche Forschung weist darauf hin, dass die relative Starrheit oder Nachgiebigkeit staatlicher Institutionen eine wichtige Rolle spielt für die Art und Weise, wie Impfungen innerhalb öffentlicher Impfprogramme angenommen werden [22]. Daher beobachten wir auch eine Bandbreite an politischen Steuerungsinstrumenten innerhalb der EU. Während beispielsweise die Einführung eines verpflichtenden Beratungsgesprächs vor Eintritt in eine Kindertagesstätte in Deutschland für politische Debatten gesorgt hat, wird in skandinavischen Ländern sowie in den Niederlanden durch staatliche Impfanbieter und Datenerfassungssysteme sehr viel stärker gesteuert. Dass Deutschland – wie auch Österreich – keine zentralen Impfregister mit Erinnerungsfunktion haben, steht im starken Kontrast zu den Steuerungsinstrumenten, die mittels solcher Register in Skandinavien und dem Vereinigten Königreich zur Verfügung stehen.“

„Der Dokumentationsfilm ‚Eingeimpft’ deutet an, dass junge Eltern ein starkes Bedürfnis haben, die Impfung ihres Babys oder Kleinkindes als aktive und persönliche Entscheidung zu gestalten – was oft im Kontrast zum Gedanken von Public Health steht, bei dem die Öffentlichkeit und die Steuerung ihrer Entscheidungen zumindest begrifflich im Vordergrund steht. Im Film wird deutlich, wieviel Freiraum Eltern und Erziehungsberechtigte in Deutschland vergleichsweise haben, wie flexibel sie ihre Impfentscheidung gestalten können (beispielsweise in der Wahl der impfenden Kinderärztin oder des impfenden Kinderarztes, des Zeitpunkts und des Impfstoffs), aber auch, wie selbständig sie auf diesem Weg durch Beratungsinstitutionen gehen müssen. Im Vordergrund des Films bleibt die Suche nach Antworten auf Seiten der Eltern; im Hintergrund bleibt das Dilemma des Staates, einerseits das Recht auf körperliche Unversehrtheit und andererseits Schutz des Allgemeinwohls zuzusichern.“

„Zum Aspekt Evidenzpolitik: Der Film ‚Eingeimpft’ zeigt, wie divers das Angebot an Impfberatung ist – allerdings vor allem im anthroposophischen, und weniger im staatlichen und rein schulmedizinischen Bereich. Es scheint also an unabhängigen und vor allem niedrigschwelligen Informationsangeboten sowie an automatisierten Erinnerungen durch Behörden oder behandelnde ÄrztInnen zu mangeln. Zudem wissen wir aus der Medizinsoziologie [23], dass wissenschaftliche Evidenz – die vor allem in Zahlen ausgedrückt wird – oft im Kontrast steht zu Formen der Evidenz, von denen Eltern und Erziehungsberechtigte in einer Impfentscheidung Gebrauch machen, darunter anekdotische und narrative Evidenz, die auf persönlichen Erfahrungsberichten beruht. Diese Diskrepanz erfordert die Eröffnung von geeigneten Räumen für Fragen und die Thematisierung von Unsicherheit und Nichtwissen – nicht zuletzt als essentieller Aspekt jeglicher Forschung. Die Debatte rund um die HPV-Impfung und die wiederkehrende Kritik an der Untrennbarkeit staatlicher Behörden von pharmaindustrieller Interessen weist darauf hin, dass Impfpolitik sich diesen Fragen offen stellen sollte. Um langfristig mehr Vertrauen zu schaffen, muss die Gestaltung von Impfprogrammen transparenter werden und verschiedene Formen von Evidenz zulassen, auch solche, die gegen gängige politische Praktiken geht – wie beispielsweise Hinweise zu möglichen nicht-spezifischen Effekten von Lebendimpfstoffen [24], die in ‚Eingeimpft’ thematisiert werden. Kurzum: Eine effektive Impfpolitik erfordert neben finanziellen Ressourcen auch Institutionen, die wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diversität gerecht werden können.“

Weitere Kommentare und Informationen zum Film: https://bit.ly/2wlCSlW