Wunsch nach globaler Bürger*innenschaft statt nationaler Abschottung
Die neue sozialwissenschaftliche transkontinentale Vergleichsstudie “Toward global citizenship? People (de)bordering their lives during COVID-19 in Latin America and Europe“ ist kürzlich im Journal Global Public Health erschienen.
Eine internationale Vergleichsstudie aus Lateinamerika und Europa zeigt am Beispiel der COVID-19 Pandemie, wie Menschen die globale Dimension der Krise in ihrem Alltag erlebten. Sie zeigt, dass sich Bürger*innen zunehmend über nationale Grenzen hinweg verbunden fühlten, Grenzen in ihrem Alltag neu definierten und verstärkte transnationale Kooperation forderten. Damit liefert diese Studie eine wichtige Ergänzung zu jener Forschung, die sich mit politischer Polarisierung und gesellschaftlicher Spaltung auf nationaler Ebene auseinandersetzt.
Grenzen und ‘Nicht-Grenzen’
Anhand von Tiefeninterviews mit 493 Studienteilnehmer*innen aus Argentinien, Bolivien, Ecuador, Irland, Italien, Mexiko und Österreich zeige sich, dass Grenzen nicht nur physisch und territorial definiert sind, sondern auch von Menschen in ihrem alltäglichen Leben gezogen, verlagert und teilweise auch abgebaut werden. In den frühen Wochen der Pandemie sahen Menschen in nationaler Abschottung die Möglichkeit, sich und ihre Angehörigen vor dem SARS-CoV-2 Virus zu schützen. Während der ersten 18 Monate der Pandemie vollzog sich dann ein Sinneswandel: den Interviewten wurde bewusst, wie ihre Situation (und jene von anderen) in einen Zusammenhang globaler Ungleichheiten eingebettet ist. Sie begannen daraufhin, sich vermehrt grenzüberschreitend mit Menschen zu verbinden und sich verbunden zu fühlen. Der Wunsch einer interviewten Person aus Irland nach global gerechter Verteilung von Impfstoff, egal ob man in einem reichen oder armen Land wohnt, illustriert diese Verbundenheit jenseits von Ländergrenzen und von sozialen Grenzen. Ein Interview aus Mexiko zeichnet die Odyssee von haitianischen Migrant*innen über Südamerika nach Mexico nach, “die schlecht behandelt wurden, anstatt dass ihnen geholfen wird”, so die interviewte Person. Durch Praktiken der Grenzziehung und einer sogenannten ‘Entgrenzung’ zeigte sich in den Erzählungen, wie sich das Selbstverständnis der Interviewten als Bürger*innen wandelte. Dabei wuchs der Wunsch nach grenzüberschreitender politischer Zusammenarbeit während der Krise.
Globale Kooperation in aktuellen Krisen
“Viele der Interviewten sind der Ansicht, dass die mehrfachen und gleichzeitigen Krisen eine Art verstärkte ‚globale Bürger*innenschaft’ erfordern. Denn nur so könne den aktuellen weltumspannenden Ungleichheiten Einhalt geboten werden. Diese Ungleichheiten verdeutlichten sich besonders im globalen Gesundheitsmanagement während der COVID-19 Krise”, sagt Isabella Radhuber, leitende Studienautorin und Koordinatorin der lateinamerikanischen Forschungspartnerschaft im SolPan-Projekt. Die Menschen sind der Meinung – das macht diese Studie deutlich –, dass aktuelle Krisen nur weltweit gemanagt werden können. Denn “weder Klima noch Viren machen vor Ländergrenzen halt, und die Politik muss hier mitziehen“, so Radhuber.
Die Studie entstand im Rahmen der Forschungspartnerschaft “SolPan - Solidarität in Zeiten einer Pandemie”, in der 22 lateinamerikanische und europäische Länderteams vertreten sind. Die Interviews wurden in drei Phasen während der COVID-19 Pandemie, zwischen April 2020 und November 2021, geführt.
Artikel (erschienen am 27. November 2023)
Radhuber, I.M., Fiske, A., Galasso, I., Gessl, N., Hill, M.D., Morales, E.R., Olarte-Sánchez, L.E., Pelfini, A., Saxinger, G., Spahl, W. (2023) Toward global citizenship? People (de)bordering their lives during COVID-19 in Latin America and Europe. Global Public Health, http://dx.doi.org/10.1080/17441692.2023.2285880
Blog zum Thema
https://digigov.univie.ac.at/projects/solidarity-in-times-of-a-pandemic-solpan/solpan-blog-deutsch/blogbeitraege/news/der-wunsch-nach-globalem-buergertum
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Kontakt
Dr. Isabella Radhuber, isabella.radhuber@univie.ac.at
Dr. Gertrude Saxinger, gertrude.saxinger@univie.ac.at
Institut für Politikwissenschaft/CeSCoS/Universität Wien